11-04-26 - Hst - Politik - Kommentar - Die Dauerkatastrophe

Tschernobyl hat auch nach 25 Jahren nichts von seinem Schrecken verloren.

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Von Wilfried Werner

Von der Zeit, die alle Wunden heilt, spricht der Volksmund. Vom Gras, das über eine böse Sache wächst, und die Erinnerung daran womöglich in mildes Licht taucht. Nichts davon gilt für Tschernobyl, die Reaktorkatastrophe von vor 25 Jahren und ihre Folgen. Nichts ist gut in Tschernobyl, in Pripjat, in Gomel. Die Schrecken von damals sind die Schrecken von heute. Immer noch sind Regionen unbewohnbar, Lebensmittel verstrahlt und gesundheitliche Spätfolgen für Millionen Bürger zu befürchten.

Zahlen Ein 1,6 Milliarden teures Monstrum von Sarkophag muss mit EU-Hilfe neu errichtet werden, damit die – leider nicht sterblichen – Überreste des Schrottreaktors nicht wieder unkontrolliert strahlen. Mindestens noch 100 Jahre werde Tschernobyl Geld verschlingen, so der Tenor in der Ukraine. Mag bei den Kosten Realitätssinn eingekehrt sein, so zieht sich, was die Opferzahlen angeht, über 25 Jahre lang eine Spur der Verharmlosung und Verdrängung. Waren es nun 10 000, 100 000 oder – realistischerweise und wenn man z.B. Totgeburten einbezieht – weit mehr, die die radioaktive Strahlung umbrachte? Offizielle Zahlen gibt es wenige, und wenn, dann sind sie interessengelenkt.

Sicherheit Der erste Super-GAU hat uns Globalisierung in seiner schlimmsten Form gelehrt. Radioaktive Wolken und wechselnde Windrichtungen verkörpern prinzipiell für alle ein Risiko. Und dennoch gibt es große Unterschiede, je nach Entfernung– weswegen auch das vielbemühte Insel-Argument nicht sticht: Ein Ausstieg nur in Deutschland wäre Unfug, da wir ja umgeben seien von Ländern, die weiter auf Atom setzen. Warum aber fühlen sich wohl nach dem Fukushima-GAU die Menschen in Tokio sicherer als in der über 200 km entfernten Evakuierungszone, erst recht in Osaka, 500 km entfernt? Auch wenn es eine Binsenweisheit ist: Zu viel Nähe kann nun mal tödlich sein.

Tschernobyl II wurde Fukushima auch genannt. Welche Auswirkungen es weltweit auf die Atomenergie haben wird, ist noch nicht absehbar. Tschernobyl I jedenfalls hat dem Glauben an die Beherrschbarkeit der nuklearen Mächte kaum Abbruch getan. Das liegt auch an der vermeintlichen Ursache: Menschliches Versagen beim Umgang mit einer Technik, die schon damals als veraltet galt. Erst Fukushima hat das Restrisiko wieder wachgerufen und die Tatsache, dass auch moderne westliche Technologie keine Sicherheit garantieren kann.

Deutschland Die Deutschen allerdings haben schon seit Tschernobyl eine Sonderbeziehung zum Atom. War die Nein-Danke-Bewegung bis 1986 noch geprägt von Latzhosenträgern und Berufsdemonstranten, so strahlte der politische Fallout des Super-GAUs bis in die bürgerlichen Parteien. Neubaupläne für AKW wurden rasch tabu. Der rot-grüne Ausstiegskonsens von 2000 wäre ohne Tschernobyl nicht denkbar. Und die Mehrheit der Bürger hat seither nie mehr von ihrer Atom-Skepsis abgelassen – was Schwarz-Gelb im vorigen Herbst mit der Laufzeitverlängerung mal eben verdrängt hatte und bei den jüngsten Wahlen bitter bezahlen musste.

Auch dieser weit verbreiteten – im Frühjahr 1986 freilich bis zur Hysterie reichenden – Antihaltung ist es heute zu verdanken, dass wir als einziges großes Industrieland auf breiter Front realistische und saubere Alternativen zur atomaren Stromversorgung aufgebaut haben. Dass wir 25 Jahre danach beim Blick weg vom Reaktor eben nicht wie Japan oder Frankreich vor einer großen Leere stehen. Auch wenn der komplette Umstieg noch mühsam und kostspielig werden mag.

26.04.2011 - Heilbronner Stimme - Politik - Wilfried Werner