Manuskripte der Ansprachen (2)

bei der Evakuierungsübung von Pfarrer Ulrich Koring aus Heilbronn

Welch weise Voraussicht hat doch die Landesregierung besessen, dass sie Flüchtlinge aus Heilbronn nach Nürtingen schickt. Mir war doch schon immer so, dass in Nürtingen freundliche Leute leben, bei denen Auswärtige willkommen und Flüchtlinge in guten Händen sind.

Glück im Unglück – ich grüße alle lieben Nürtinger, bekannte und unbekannte.
Die Evakuierten grüßen insbesondere die Vertreter der Stadt Nürtingen.
Wir danken Ihnen, dass Sie den Notruf aufgefangen und blitzschnell reagiert haben, um uns heute diesen herzlichen Empfang zu bereiten.
Wir danken den Ärzten gegen den Atomkrieg und den Mitgliedern von BUND und NaBu für die freudige Unterstützung, unsere Flucht vor dem radioaktiven fall-out zu inszenieren.

Nach dem schrecklichen Heulton der Sirenen und dem eiligen Verlassen der Häuser tut es gut zu erleben, wie herzlich Sie uns aufnehmen und Herberge bieten. Noch ein paar Stunden haben wir Zeit, dann dreht der Wind auf Nordwest. Dann wird er die Wolken der strahlenden Staubpartikel umlenken und über die Landeshauptstadt und über Esslingen nach Südosten treiben. Wie viel vom fall-out Nürtingen erreicht, ist ungewiss.

Wir sehen, Nürtinger und Heilbronner sitzen im selben Boot. Die bei einem Störfall im Kernkraftwerk Neckarwestheim austretende Strahlung bleibt nicht auf einen Umkreis von 8 bis 10 km begrenzt. Aus dem Unglück von Tschernobyl haben wir nicht viel gelernt. Auch wenn die Ursache dort nicht die Ursache von Störfällen in unseren Kraftwerken sein wird, auch wenn ein GAU sehr unwahrscheinlich ist - dennoch, wenn er eintritt, ist klar, dass er unkontrollierbar und nicht zu begrenzen sein wird. Aber schon kleinere, gerade noch beherrschbare Unfälle können große Mengen von radioaktiver Strahlung freisetzen.

Die Auswirkungen eines Unfalls sind gigantisch.

Vor Jahrzehnten hat man die Flucht in die Luftschutzbunker geübt. Da wussten alle, was sie zu tun hatten und wie viele Minuten sie für den Weg dorthin brauchten. Die Flucht vor den AKWs übt man nicht. Sie würde etwas Gespür dafür wecken, dass wir auf einem Pulverfass sitzen. Nur weil wir die Gefahr ausblenden, gehen wir gemütlich einkaufen, lustig spielen, fleißig arbeiten und ruhig schlafen.

Die Atomenergie ist eine typische Wirtschaftsform des 20. Jhs. Sie ist leistungsstark, die Anlagen sind mit Steuergeldern aufgebaut, nach der Amortisation verdienen sich die Stromkonzerne eine goldene Nase nach den anderen – viele Bürger erkennen nicht, dass sie selbst an der Nase herum geführt werden: Denn nach der Gewinnphase dürfen sie erneut bezahlen: die Lagerung. Auf 4.000 Lebensalter hinaus ist der Müll zu hüten, zu kontrollieren, zu sichern.

Schon die Gewinnung des Uran hat verheerende Auswirkungen auf die Natur und die Gesundheit der Arbeiter. Zum Abbau und zum Transport muss fossile Energie in großen Mengen eingesetzt werden, die CO2 Bilanz ist schlecht.

Und im Betrieb sind Atomkraftwerke höchst unwirtschaftlich, die Abwärme wird nicht genutzt. Vergeudung ist Ihr Kennzeichen – passend zum 20. Jh., wo wir achtlos und im wahrsten Sinne auf Teufel komm raus gewirtschaftet haben, überzeugt, dass wir die Rechnung ohne den Wirt machen können.

Wenn wir heute eine Evakuierung inszenieren, tun wir das in dem Wissen, dass im Ernstfall die Ausbreitung der Strahlung viel schneller vonstatten geht als Menschen fliehen können und wir Nürtingen nicht unkontaminiert erreichen noch  wirklich Schutz finden würden.

Euch sagen wir herzlich Dank für die freundliche Aufnahme. Uns und dem Land wünschen wir, von einem Unfall verschont zu bleiben.

Deshalb fordern wir:
Keine Laufzeitverlängerung – AKWs abschalten.