09-12-14 - NTZ - Im Ernstfall fliehen auch die Nürtinger

Mit einer simulierten „Evakuierung“ wurde auf die Gefahren der Atomkraft aufmerksam gemacht

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Der Ausbau der Atomenergie wird von manchem als Königsweg aus der Klimakatastrophe gepriesen. Dass dem nicht so sei, sondern es sich bei Kernkraft im Gegenteil um einen gefährlichen Irrweg handelt – das wollte eine große Aktion in Nürtingen deutlich machen.

VON JÜRGEN GERRMANN

NÜRTINGEN. Sie haben noch den Morgenmantel an, den Kamm im Haar und den Rasierschaum an der Backe. Einer trägt eine Wärmflasche um den Hals. Frauen haben Babys im Arm oder einen Teddybär am eilig zusammengepackten Rucksack. Eine andere kuschelt sich unter eine goldfarbene Rettungsdecke. Ein Mann zieht mit der linken Hand einen Rollkoffer, in der rechten trägt er einen Katzenkäfig. Ein anderer hat noch die Kickstiefel und das rote Trikot der SpVgg Unterhaching an: Ein merkwürdiger Zug bewegt sich am Samstagmittag vom Nürtinger Bahnhof zum Rathaus. Das Aktionsbündnis Energiewende Heilbronn protestiert damit gegen die von ihm befürchtete Renaissance der Atomkraft.

Warum gerade so? Und warum gerade in Nürtingen? Nun, was bis vorgestern wohl hierzulande kaum einer wusste: Sollte es einen Störfall im Neckarwestheimer Atomkraftwerk geben, sollen die Bürger des Heilbronner Stadtteils Horkheim in Hölderlins Heimat evakuiert werden.

Oberbürgermeister Otmar Heirich hieß die „Flüchtlinge“ im Bürgersaal des Rathauses willkommen und bezog mit einer fiktiven Rede des Nürtinger Stadtoberhaupts des Jahres 2020 durchaus Position: Er glaubt offenkundig nicht an das Mantra der sicheren, billigen und das Klima rettenden Atomkraft.

Als Repräsentant der Demonstranten sprach zunächst ein alter Bekannter: Pfarrer Ulrich Koring, einst an der Nürtinger Lutherkirche und nun in der Heilbronner Nikolaigemeinde, stellte zunächst einmal die Absurdität der Katastrophenschutzpläne an den Pranger. Die Strahlung lasse sich nicht auf einen Radius von acht bis zehn Kilometer beschränken. „Und wie viel fällt auf Nürtingen, wenn der Wind sich dreht?“

Man müsse sich schon fragen, was man hierzulande aus Tschernobyl gelernt habe: Auch wenn ein GAU unwahrscheinlich ist, ist klar, dass seine Folgen unkontrollierbar und unbegrenzbar sein werden.“ Vor 70 Jahren habe man den Menschen gezeigt, wie sie bei einem Bombenangriff Schutz in den Bunkern suchen sollten: „Die Flucht vor der Atomkraft übt man aber nicht, weil das die Menschen spüren ließe, wie gefährlich die Kernenergie tatsächlich ist.“ Die sei ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert, wo „wir achtlos und buchstäblich auf Teufel komm raus gewirtschaftet haben“.

Dass die Notfallpläne für einen Störfall in Neckarwestheim jeglicher Realität entbehrten, wollte auch Franz Wagner, ein Arzt aus den Reihen des Aktionsbündnisses, aufzeigen. Im Ernstfall kämen die Flüchtlinge nämlich nicht mit dem Zug: „Laut Plan müssen sich 80 Prozent selbst evakuieren – mit dem Auto. Und das auch noch geordnet!“ In 30 Kilometer Umkreis von Neckarwestheim lebe eine Million Menschen. Wie wolle man die versorgen? In den Businessplänen der Kraftwerksbetreiber seien Tausende Polizisten, Feuerwehrleute, Krankenschwestern und Ärzte einfach als „kostenlose Dienstleister“ miteinkalkuliert: „Hilfskräfte werden da quasi als Geiseln genommen.“

„Im Ernstfall ist die Strahlung schneller, als die Menschen fliehen können“
Ulrich Koring, Pfarrer, Heilbronn

Wagner warnte auch davor, in der Kernkraft die Rettung vor der Klimakatastrophe zu suchen: „Atomkraftwerke nutzen da gar nix. Sie verhindern vielmehr die Klimawende. Die EnBW und die anderen Konzerne kommen immer wieder mit diesem verlogenen Argument, und leider glauben das immer noch viele Leute.“

Namens der Nürtinger Gruppe der Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) stellte sich Dr. Erwin Müller auf die Seite der Demonstranten. Er forderte zudem, dass Atomkraftwerke eine Haftpflichtvorsorge in voller Höhe abschließen müssten (derzeit seien nur 0,1 Prozent des Risikos versichert), wie man das ja auch von jedem Autofahrer verlange: „Dann wäre das Gerede vom ,billigen‘ Atomstrom schnell vorbei!“ Eine Gesellschaft, die sich einreden lasse, ihr Wohlstand hänge von der Atomkraft ab und man könne in guter Nachbarschaft mit Atomkraftwerken leben, riskiere den Tanz auf dem Vulkan. Und daher müsse man am Ausstieg aus der Atomkraft festhalten – aber dürfe diesen Strom auf keinen Fall durch fossile Energieträger ersetzen. Sondern nur durch erneuerbare Energien.

So außergewöhnlich die Aktion war, so einig zeigte man sich aber auch darüber, dass der Ernstfall anders aussehen werde. Ulrich Koring: „Dann breitet sich die Strahlung schneller aus, als die Menschen fliehen können.“ Otmar Heirich: „Bei einem wirklichen GAU werden die Nürtinger genauso auf der Flucht sein wie die Horkheimer.“

www.dont-nuke-the-climate.org

Am Rande des Schillerplatzes machten die „Atomflüchtlinge“ aus Horkheim zum ersten Mal Station. Foto: Holzwarth

14.12.2009 - Nürtinger Zeitung - Nürtingen - Jürgen Gerrmann